SANDRA WALSER, 11. JUNI 2021
Ein kleiner weisser Punkt in der ostgrönländischen Tundra: mein erster Eisbär! Das war am 17. September 2010. Dieses Datum werde ich wohl nie vergessen – auch wenn ich mittlerweile schon weit über 100 dieser majestätischen Tiere in ihrem natürlichen Habitat beobachten durfte. Zum Glück immer aus sicherer Distanz.
Ich arbeite als Guide auf touristisch genutzten Expeditionsschiffen in den Polargebieten. Die Begegnung mit Eisbären ist für mich etwas vom Eindrücklichsten, das man in den kargen Landschaften des hohen Nordens erleben kann. Jede Begegnung ist anders: Manche Tiere sind sehr neugierig und checken uns richtiggehend aus. Sie umkreisen langsam unser im Meereis geparktes Schiff, kratzen an dessen Hülle, schnuppern in der Luft und versuchen das, was sie sehen, fühlen und riechen, einzuordnen. Dieser Vorgang kann wenige Minuten bis mehrere Stunden dauern. Manchmal sind wir einem Eisbären aber total gleichgültig, und er trottet unbeirrt vorbei. Dann gibt es auch «Showbären», die eigens für uns – so scheint es zumindest –, auf dem Eis herumzutollen beginnen, Laute von sich geben, über eine Spalte springen, schwimmend eine Wasserstrasse überqueren oder sich an einem Kadaver gütlich tun. Und schliesslich sind da noch die «Pixelbären»: Wir entdecken sie in weiter Ferne durch unsere Spektive und Ferngläser – oder eben als ein paar Pixel auf einem stark vergrösserten Foto.





Oft stossen wir «nur» auf Hinweise, die zweifelsfrei die Präsenz des Königs der Arktis schliessen lassen: Riesige Tatzenspuren im lehmigen Boden, Losungen (Gaggi!), Beuteüberreste oder – in bewohntem Gebiet – Schäden an Vorrichtungen wie Hütten. Ja, so niedlich gewisse Eisbären auch aussehen: Es sind riesige Tiere – und sie stehen an der Spitze der Nahrungskette! Daher gehen wir mit unseren Gästen jeweils erst an Land, nachdem wir das Gebiet gründlich überprüft und die nähere wie weitere Umgebung für «bärenfrei» erklärt haben. Nichts desto trotz kann ein Eisbär im Grunde genommen immer und überall auftauchen, weshalb wir Guides eine Waffe tragen und uns immer extrem wachsam durchs Gelände bewegen. Für die seltenen unvorhergesehenen Begegnungen mit dem grösstem Landraubtier der Welt sind wir speziell geschult. In erster Linie gilt es, Ruhe zu bewahren und zu versuchen, mit einem klar definierten Vorgehen den Bären zu verscheuchen. Nur im äussersten Notfall greifen wir zum letzten aller Mittel und schiessen, um zu töten. Diese Verkettung unglücklicher Umstände kommt zum Glück im Kontext des schiffbasierten Tourismus nur alle paar Jahrzehnte vor.





Auf einen Eisbären schiessen zu müssen ist der Albtraum eines jeden Guides, deshalb bündeln wir alle unsere Kräfte, dies zu verhindern – und stattdessen sichere Eisbärenbeobachtungen möglich zu machen, vom Schiff oder von Zodiac-Schlauchbooten aus. Natürlich ist so eine Begegnung nicht planbar, und wenn auf einer Reise bereits mehrere Tage ohne Sichtung verstrichen sind, geraten wir schon etwas unter Druck …
Alle aus dem Guide-Team sind regelmässig für die «Wildlife Watch» eingeteilt, insbesondere an den Tagen im Treibeis, dem idealen Eisbärenterritorium: Wir halten Ausschau nach dreckig-weissen Punkten im Weiss – rund um die Uhr. Die Reisen finden im Sommer statt, zur Zeit der Mitternachtssonne. Es kommt nicht selten vor, dass wir mitten in der Nacht «Eisbärenalarm» schlagen. Dann herrscht grosse Aufregung! Und es gibt immer einige Gäste, die im Pijama an Deck rennen – und sich nach dem Schauspiel schlotternd, aber sehr glücklich wieder in ihre Kabine verziehen …




Der 24. Juli 2011 ist ein weiteres Datum, das sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Ich befand mich an diesem Tag an Bord einer russischen Eisbrechers. Nach dem Nachtessen machten wir in einem grossen Eisfeld halt, und ich ging mit meiner Kamera an Deck, um die Eiswüste zu fotografieren. Wie aus dem Nichts stand sie plötzlich da, direkt unter mir: eine Eisbärin! Sie stellte sich auf ihre Hinterbeine, ihr grosser Körper erhob sich. Dann drehte sie ihren Kopf nach oben – und wir schauten uns direkt in die Augen. Erst nach einer Weile wagte ich es, langsam zur Kamera zu greifen und diesen unglaublichen Moment festzuhalten – mit dem Weitwinkelobjektiv! Die Eisbärin war gerade Mal zwei Meter von meiner Linse entfernt …


Sandra Walser
Polarguide, Fotografin und LINGS-Kundin
WEB: sandrawalser.ch
FB: sandra.walser
IG: s_walser
Lieblingsgegenstand bei LINGS: Canon EOS 100-400 mm
einmalig schöne Aufnahmen !!